Eines muß hier mal in aller Deutlichkeit festgestellt werden: Keiner von uns würde durch sein ureigenes wunderliches Leben irren, wenn es nicht irgendwann einmal zwei Personen gegeben hätte, die sich wenigstens einmal sehr sehr nahe gekommen sind.
Zwei Personen, die sich ungeachtet des ausbleibenden Weltfriedens, trotz schrecklicher Wohnungsverhältnisse oder gerade wegen kalter Witterung zusammengehuschelt haben, um ein Kindchen zu zeugen. Klar, nicht immer wird es die Überwindung der Schwerkraft, also die Liebe, gewesen sein, die uns auf diese kalte Scholle namens Welt geworfen hat. Manchmal war es vielleicht eine vergessene rosafarbene Tablette oder ein perforiertes Stück Gummi.
Komischerweise bekommen die meisten von uns schwere Beklemmungen und beginnen innerlich zu stottern, wenn sie sich ihre eigene biologisch-chemische Herstellung vors innere Auge führen. “Meine Eltern sollen Sex gehabt haben? Soll das ein Thema sein? Laß uns über den Grand Prix Eurovision reden oder über neuen süßen Kerl aus GZSZ… Oder über irgendwas anderes… Aber doch nicht darüber!!!”
Beruhigend ist vielleicht, daß wir diese schwere Eltern-und-Sex-Allergie mit den meisten unserer heterosexuellen Mitmenschen teilen. Das Problem stellt sich so als völkerverbindend heraus.
Sehr verbindlich ist demzufolge auch die namenlose Furcht vor jenen Tagen an Weihnachten, zu Ostern und zum eigenen Wiegenfest: DER ELTERNBESUCH!
Wöllte man sich dem Problem ELTERNBESUCH hobby-philosophisch nähern, müßte man gackern: Diese Problem ist ambivalent! Es ist schrecklich schön oder wunderbar grausam.
Zuallererst muß man zwischen den Besuchsrichtungen unterscheiden. Besucht man die Eltern selbst, sucht also die Stätte der Kindheit und Jugend selbstständig auf, ist die Sache ziemlich klar: Die Eltern sind eineindeutig im Heimvorteil und wir selbst auch. Schließlich haben wir dort den Großteil unserer verwirrenden Pubertät verbracht. Meist wissen wir also genau, wo die Jacke hingehört. Wir wissen, daß die Senkel in die Schuhe gehören, bevor man sie auf dem dafür vorgesehenen Puschelteppich ausrichtet. Wir wissen, auf welchen Stuhl oder Sessel wir gehören und das man der Mama niemals beim Aufwasch hilft, weil wir ja eh alles falsch machen. Gut, die scheinbaren Männergespräche mit Papa sind vielleicht etwas anstrengend, aber dafür gibt’s vielleicht zum Abschied eine kleine Geldspende. Und sollten die Gespräche zum Kaffee ganz schrecklich werden: (“Iß doch noch was, Junge, die Rharbarbertorte hast Du doch früher so gemocht.”), kann man sich immer noch in die Kinderfotos auf dem Vertiko hineinträumen, als die Erzeuger noch glaubten, man würde mal eine schicke nette Blondine ehelichen und das Haus mit Enkeln zum Verzehr saurer Rharbarbertorte füllen.
Umgekehrter Besuch stellt eine ungleich komplexere Versuchsanordnung dar. Kommen die Eltern in unsere gestylten Appartements, bemühen wir uns freilich um Coolness und Trockenheit. Aber der Besuch selbst stellt sich schnell als eine Art Wüstendurchquerung ohne Sonnenschutz heraus. Eine Gipfelstürmumg ohne Sauerstoff. Eine Weltumseglung ohne Kompaß.
Merkwürdigerweise gibt es hier kein Revier und keinen Heimvorteil mehr. Unsere geliebte Wohnung kommt uns eher fremd vor. Mutti und Vati sitzen zwar betont locker lächelnd herum, aber das Gefühl der Wohnungsbesetzung will und will nicht weichen. Vielleicht staunt Mama über die herrliche Sauberkeit und die perfekt ausgerichteten Zierdeckchen. Vielleicht können wir mit Vati lang, männlich und technisch über die Vorteile unserer neue Bang-&-Olufsen-Anlage debattieren. Trotzdem werden beide Menschen, die wir ja doch irgendwie lieben, erkennen, daß der Liebhaber in der Bodenkammer versteckt und die künstlerischen Aktbilder mit Katzenpostern verdeckt werden mußten. Aber spätestens dann, wenn der Papa errötet, weil er an der Pinnwand die sichtbar tuckig gestaltete Jahreskarte für die berühmte Mannersauna in der Löbervorstadt entdeckt hat, sollten wir lautstark ein neues Tortenrezept anpreisen. Und schon wird getuschelt, gemauschelt und alles ist wieder schön. Mutti, Vati & Kind sind wieder zusammen.
Und das macht doch das Leben aus, oder?
Marcello Libelle